Thema: Stahllogistik in Europa

Magazin: logistics (DBSchenker)

Textauszug

 

DIE WALES CONNECTION

 

DB Schenker Rail hat für Tata Steel Europe eine neue Lieferkette zwischen den Stahlwerken in den Niederlanden und Großbritannien geknüpft. Zügig hat die Logistiklösung einen Engpass im weltweiten Produktionsnetzwerk des Stahlerzeugers beseitigt und sich nahtlos in die Lieferprozesse integriert

 

 

Südwest-Wales. Hügelig ist es, grasgrün, britisch eben. Wer am Flughafen von Cardiff nach dem Weg zu den Steelworks in Llanwern fragt, erntet Achselzucken. Haben sie das nicht alles still gelegt? Vor Jahren schon? „Das passiert überraschend häufig“, sagt Robert Dangerfield, Unternehmenssprecher von Tata Steel in Großbritannien. „Selbst die Leute aus der Gegend haben oftmals nicht auf der Rechnung, dass hier in den vergangenen Jahren etwas Neues entstanden ist.“ Seit 2007 gehört der ehemalige Corus-Standort zu Tata Steel Europe einem der gewichtigsten Geschäftszweige der indischen Tata-Gruppe (siehe Infobox).

 

Dabei ist das Stahl-Areal am Queensway in Newport/Llanwern (sprich: Ch-Llanwern) eigentlich nicht zu übersehen. Auf sechs Quadratkilometern findet sich eine knappe Autostunde vom Flughafen Cardiff einer der Knotenpunkte für die Stahlproduktion- und Logistik in Großbritannien. Gleisanlagen durchziehen das Gelände bis in die gigantischen Bays mit Feldern voller Stahlrollen zur Verladung. Es ist Mittwoch, 11 Uhr, in einer Stunde trifft hier der DB Schenker Zug aus dem benachbarten Tata-Werk in Trostre ein zur Beladung. Was hier täglich verladen wird, ist ziemlich heavy: Durchschnittlich 20 Tonnen bringt ein Coil auf die Waage, wird er abgerollt, erhält man einen Kilometer Stahl.

 

Vier Züge pro Woche

 

Die meisten der 35.000 Mitarbeiter von Tata Steel Europe sind in Großbritannien beschäftigt, nämlich 25.000 Menschen. 8.000 von ihnen in Wales, das wegen seiner reichen Kohlevorkommen für die Stahlindustrie von jeher als attraktiver Standort gilt. Die 1.200 Mitarbeiter im Werk Llanwern haben seit März 2011 noch mehr zu tun: Seit Ende des ersten Quartals werden hier zusätzlich zum normalen Betrieb Züge mit der Destination Ijmuiden/Niederlande mit Coils aus eigener Produktion beladen. Viermal die Woche machen sich Züge mit je 20 Shimmns Waggons mit ihrem Ladegewicht von jeweils 68 Tonnen auf den Weg nach Ijmuiden.

 

Am Anfang war das Feuer. Als im Dezember 2010 bei Wartungsarbeiten der Tata Steel Europe Niederlassung in Ijmuiden ein Brand ausbricht, steht schnell fest: Es ist niemand verletzt worden, aber die betroffene Pickling Line 22 ist für Monate außer Betrieb. Für das Reinigen und Walzen, also das Beizen des Rohstahls, müssen Ausweichkapazitäten genutzt werden. „Nur welche und wie kommen die Stahlprodukte von dort nach Ijmuiden?“ Martin van der Meer, 32, hatte sich seinen Dienstantritt im Januar 2011 als Manager für Chartering Rail Transport bei Tata Steel vielleicht ruhiger vorgestellt. „Neben der Einschätzung des Schadens war für uns natürlich am wichtigsten: Wie minimieren wir die Folgen für unsere Kunden so weit wie möglich?“

 

Ijmuiden vor den Toren Amsterdams ist der größte Standort von Tata Steel in Europa. Die 9.000 Mitarbeiter, die hier in fünf Schichten arbeiten, produzieren 7,6 Millionen Tonnen Rohstahl pro Jahr. Alle europäischen Standorte gemeinsam kommen pro Jahr auf 18 Millionen Tonnen Rohstahl, mehr als zwei Drittel der weltweiten Produktion von Tata Steel – eine Zahl, die die strategische Bedeutung Europas für Tata Steel eindrucksvoll unterstreicht. 20 % des Gesamtausstoßes an Stahlprodukten schickt Tata Steel auf die Schiene, 20 % auf den Lkw und 60 % erreichen per Schiff ihr Ziel.

 

Auf der Kundenliste von Tata Steel stehen alle Schlüsselindustrien: Bauwirtschaft, Automobilindustrie, Gleisbau, Nutzfahrzeug- und Maschinenbau, der Energiesektor, die Verpackungsindustrie, der Schiffs- und der Flugzeugbau. „An Produktionskapazitäten in Europa war kein Mangel“, berichtet van der Meer. „Die Herausforderung für das Team bestand zunächst in der Logistik: Unsere Werke in den Niederlanden und in Großbritannien mussten just in time zusammenarbeiten, um die Produktionslücke in Ijmuiden zu schließen.“

 

Synergien in der Supply Chain

 

Gesucht war eine Lösung, die zusätzlich zum Schließen der Produktionslücke Synergien zwischen den verschiedenen Standorten nutzt. Die Strecke: In Ijmuiden werden hot rolled Coils geladen und über Antwerpen, Calais, den Eurotunnel nach Trostre in Südwest-Wales transportiert. Dort werden sie entladen und in dem Tin Plate-Werk zu Blechprodukten weitererarbeitet, einer der Hauptabnehmer ist die britische Verpackungsindustrie. Die 20 leeren Waggons laufen weiter nach Llanwern, wo sie mit gebeizten Coils beladen werden, die in Ijmuiden dringend gebraucht werden (siehe Grafik). Bis hierhin hat der Stahlzug rund 900 Gleiskilometer zurückgelegt.

 

Ein Fall für Jan Palma. Als Key Account bei DB Schenker am Standort Utrecht, kennt er die europäische Stahlindustrie und ihre speziellen Bedürfnisse seit Jahren. Tata Steel betreut er seit 2007. „Am Anfang steht erstmal die einfache Frage: Haben wir genug Waggons, die für diesen Einsatz geeignet sind?“ Dabei ging es um mehr als die 220.000 Tonnen Stahl, die innerhalb eines halben Jahres zwischen den beteiligten Tata-Standorten in Ijmiuden, Trostre und Llanwern in Wales zu bewegen waren. Palma: „Die gesuchte Lösung musste Eurotunnel-kompatibel sein und damit sowohl auf dem kontinentalen und britischen Schienennetz funktionieren.“ Unterstützung bekam er dabei von dem belgischen DB Schenker Partner BLogistics, der ab Antwerpen in die neue Supply Chain-Lösung eingebunden ist.

 

Rennen gegen die Zeit

 

Bis diese Lösung stand, hatten die Expertenteams von Tata Steel ein Rennen gegen die Zeit auf dem Trainingsplan. „So etwas klappt natürlich nicht von heute auf morgen“, sagt Paul Bradshaw, Freight Operations Manager am Standort Llanwern. „Unsere zweite Pickling Line war zuvor 18 Monate außer Betrieb gewesen. Das Team hat es in unglaublichen zehn Tagen geschafft, die Line flott zu machen und die extra Produktion für Ijmuiden anzufahren – normalerweise dauert so etwas zwei bis drei Wochen Minimum!“

 

Zusätzlich zur laufenden Produktion in Llanwern kommen seitdem 5.000 Tonnen kalt gewalzter und gebeizter Stahl wöchentlich. Das entspricht einem Anteil von etwa zehn Prozent an der gesamten Produktion. In ganz Großbritannien rollen täglich 20 bis 30 Züge von DB Schenker mit Tatas Stahlprodukten über das Gleisnetz. Sie verbinden neben Trostre und Llanwern auch die Standorte Scunthorpe und Rotherham in der Region um Sheffield so wie Port Talbot in Süd-Wales. „Es passiert auf der neuen Strecke noch mehr als Produktionsausgleich“, ergänzt Paul Bradshaw: „Wir beladen in Llanwern den Zug mit weiteren Stahlprodukten, die über Ijmuiden nach Italien und Schweden geforwardet werden. Das ermöglicht uns endlich, Produkte aus UK und NL in derselben Lieferung zum Kunden zu bringen.“

 

Tata Steel musste in dieser schwierigen Situation beweisen, dass die einzelnen europäischen Standorte auch über nationale Grenzen hinweg perfekt harmonieren. „Die gegenwärtige logistische Lösung auch ein erfolgreicher Testfall für die europäische Perspektive unseres Unternehmens“, erklärt Pieter Schaffels, Kommunikationschef Niederlande von Tata Steel. „Unsere Langfrist–Strategie zielt darauf ab, eine eigenständige Marke auf dem europäischen Markt zu etablieren – one face to the customer. Und dazu muss sich gerade ein weit verzweigtes Unternehmen wie Tata Steel auch nach außen als Einheit präsentieren.“ Das war nicht immer so: Verschiedene Hubs, die unabhängig voneinander Business gemacht haben, prägten bis vor kurzem noch das Bild.

 

Lieferzahlen mit Edding

 

Am Montagmorgen um Punkt 10.10 Uhr war der mit Coils beladene Zug in Ijmuiden gestartet. 24 Stunden später, am Dienstag hat er das südwalisische Werk in Trostre zur Entladung erreicht. Jetzt ist es Mittwoch 12 Uhr, der Zug aus Trostre trifft pünktlich in Llanwern ein (siehe Grafik). Die Crew in Bay One bereitet die Beladung für das Werk in Ijmuiden vor. Es dauert noch rund zwei Stunden bis um 14 Uhr die Waggons alle Sicherheitsschleusen durchlaufen haben und in die Halle rollen. Dann werden die blauen Planen der Shimmns mit einem Ruck abgezogen wie das Verdeck eines Cabrios. In den Hallen von den Ausmaßen einer Kleinstadt arbeiten Mini-Teams von vier Leuten.

 

Unter dem Hallendach saust der mächtige Kran hin und her, durch die Verglasung der Seitenfront bricht sich das helle Tageslicht diffus. Kranführer John Willis braucht in jedem Fall gute Augen: Er muss die Coils nicht nur zentimetergenau auf die Flachwaggons heben, sondern vorher aus 40 Metern Höhe die Lieferzahlen erkennen, die Kollege Martin Bakem mit Edding auf die Plastikplanen geschrieben hat. Auf den Coil-Feldern der Bay in Llanwern lagern Millionenwerte. Der Stahl auf den Coils kostet pro Tonne 750 Euro. Hochgerechnet auf ein Set mit 20 Waggons pro Zug, kommt man da pro Lieferung schnell eine Million zusammen.

 

Die globale Stahlwirtschaft hat schwierige Jahre hinter sich. Die Finanzkrise traf die Branche, die als Seismograph für die Weltkonjunktur gilt, empfindlich. Zwischen 2009 und 2010 sank die Nachfrage allein in Europa um fast 25 %. „Mittlerweile sehen wir zwar eine deutliche Erholung“, sagt Martin van der Meer. „Klar ist aber auch: Das Pre-Crisis-Level erreichen wir frühestens 2012 wieder!“ Die Chancen dafür stehen gut. Im vierten Quartal des Geschäftsjahres 2010/2011 erzielte Tata Steel ein Rekordergebnis: Mit 937 Millionen US Dollar Nettogewinn konnte eine Steigerung von 72 % gegenüber dem Vorjahreszeitrum verbucht werden. Hierin ist allerdings auch der einmalige Gewinn durch den Verkauf der Tochter Teesside Cast Products enthalten, der allein 561 Millionen Dollar erlöste.

 

Stahlindustrie im Umbruch

 

Seit im vergangenen Jahr die wichtigsten Minenkonzerne die jährlichen Benchmarkverträge für die Rohstoffe Eisenerz und Kokskohle zugunsten vierteljährlicher Preisvereinbarungen gekündigt haben, müssen sich Stahlproduzenten wie Tata in einem immer volatileren Marktumfeld behaupten. „Cost Leadership definiert sich für uns immer stärker durch eine hocheffiziente Supply Chain“, erklärt Logistik-Experte van der Meer.

 

Die europäische Stahlindustrie ist im Umbruch. Der massivste Bedarf an Rohstahl wird langfristig nicht in Europa, sondern im asiatischen Raum gesehen. Der größte Rohstahlproduzent ist China, das 2010 einen Anteil von 44,3 % an der weltweiten Produktion erreichte. Tata Steel-Sprecher Robert Dangerfield: „Europas Stahlwirtschaft wird künftig noch stärker technologiegetrieben sein. Ihr kommt eine Führungsrolle bei Innovationen zu und wird ihr Profil in der Kundenorientierung noch weiter schärfen.“

 

Das kann man heute schon sehen. Bei Tata Steel in Ijmuiden sind 500 Mitarbeiter in der Forschung und Entwicklung beschäftigt: Das sog. „Application Center“ arbeitet Seite an Seite mit Kunden aus der Automobilindustrie zum Beispiel an Leichtbaulösungen zur Einsparung von CO2. Auf dem Areal findet sich seit Mai 2011 zudem die Forschungsanlage Hlsarna: Sie ist Teil einer Innovationsinitiative der europäischen Stahlindustrie, ULCOS (Ultra-low CO2 Steelmaking). Ziel ist es, die CO2 Emissionen der energieintensiven Stahlproduktion mittelfristig um bis zu 20 % zu senken. In Großbritannien ist Tata Steel an dem seit einem Jahr laufenden Projekt SPECIFIC beteiligt. Das steht für „Sustainable Product Engineering Centre for Innovative Functional Industrial Coatings“. Hier im Fokus: In Stahlkonstruktionen integrierte Photovoltaik-Systeme.

 

Es ist Donnerstag, 12 Uhr Mittags. Das Team in Bay One von Llanwern hat seinen Job erledigt. De 20 Waggons mit Destination Ijmuiden sind jetzt vollbeladen und startklar. Heute Abend um 20 Uhr wird er den Eurotunnel Bahnhof Dollands Moor erreichen um genau eine Minute nach Mitternacht kommt der Stahlzug in Calais an und setzt dann seine Fahrt vor. Die Kollegen in Ijmuiden haben noch etwas Zeit: Am Freitagabend um 20 Uhr kommen die gebeizten Coils aus Wales an – in dem Zug, der am Montag hier auf die Reise gegangen ist.

 

Die Reparaturarbeiten in Ijmuiden laufen derweil auf Hochtouren. Bis Ende des Jahres will man Pickling Line 22 wieder in Betrieb nehmen, sogar mit einer größeren Kapazität anfahren als bisher. Die „Wales Connection“ wird dann aber nicht hinfällig. Martin van der Meer: „DB Schenker hat in sehr kurzer Zeit gemeinsam mit Tata Steel eine maßgeschneiderte Logistiklösung entwickelt und dazu beigetragen, dass die Werke in den Niederlanden und UK noch enger zusammengewachsen sind. Darauf möchten wir für die Zukunft aufbauen.“