Thema: Ölforschung bei Shell in Hamburg

Magazin: TRANSPORT (Mercedes-Benz)

Textauszug:

 

DAS OPTIMALE ÖL

(Originalfassung)


Man muss schon gut zu Fuß sein, um das Tempo von Dr. Helmut Leonhardt
durchzuhalten. Der Leiter der Produktentwicklung Schmierstoffe wetzt über das PAE-Laborgelände von Shell im Hamburger Hafen und referiert dabei druckreif über
Innovationen und Erforschung von Motorenölen. Nicht ohne auch nur für eine
Sekunde die strengen Sicherheitsbestimmungen des Areals aus dem Blick zu
verlieren. „Gleich im Labor müssen wir die Schutzbrillen wieder aufsetzen. Und
Vorsicht, nicht stolpern, hier liegen noch Elektrokabel von der Baustelle!“ Auf dem
Gelände der Shell ist gerade ein neuer Komplex für die globale Fettforschung von
Shell im Bau. Eigentlich aber ist es ganz beschaulich hier, direkt am Ufer der
Süderelbe. Zugvögel sonnen sich bei ihrer Rast auf den Molen und mit den
weitläufigen Rasenflächen rund um den Laborkomplex haben Wildkaninchen ein
einzigartiges Biotop erobert.


Für Expeditionen ins Tierreich bleibt aber meistens keine Zeit. Die 200 Mitarbeiter
des PAE-Labors prüfen im weißen Kittel neue Ölprodukte im Reagenzglas, lassen
Motoren im Dauertest laufen, und hieven ganze Mercedes-Benz Actros Zugmaschinen auf den Rollenprüfstand. „Meine Aufgabe ist es, gemeinsam mit den Fahrzeugherstellern die besten Produkte für die komplizierten Motoren von heute zu entwickeln“, erklärt Helmut Leonhardt. Im Fokus des promovierten Chemikers stehendrei zentrale Faktoren: Verringerung der Schadstoffemissionen, Verbesserung des Kraftstoffverbrauchs und drittens Verlängerung des Motorlebens - durch wirksamen Verschleißschutz und Kolbensauberkeit.


Auf der Jagd nach den Mobilitätsformeln der Zukunft sammeln die Forscher alle nur
denkbaren Daten. Diese Arbeit beginnt im Detail. Zum Beispiel am Arbeitsplatz von
Nanny Ridder. Vorsichtig taucht die Chemielaborantin einen Metallstab in einen
Messzylinder mit Testöl. Am Ende des Gestänges ist ein poröser Stein angebracht.
„Über die mikroskopisch feinen Öffnungen seiner Oberfläche leiten wir Luftdruck in
den Messzylinder. Wir wollen wissen: Welches Schaumverhalten weist unser Öl bei
welcher Temperatur auf?“ Hintergrund: Schaum im Öl kann durch Druckabfall zur
Verminderung des Ölflusses und damit im Extremfall zu Motorschäden führen.


Bei den Nutzfahrzeug-Motorengenerationen der vergangenen Jahre war
Emissionsminderung das vorherrschende Thema. Und die lässt sich nur mit dem
passenden Ölprodukt verwirklichen. „Die Forderung nach Leistungssteigerung eines
Antriebs kommt am Ende immer bei der Entwicklung neuer Öle an“, erklärt Helmut
Leonhardt. „Wo Emissionsminderung der Treiber der Forschung und Entwicklung ist,
sind dazu natürlich Kraftstoffe und Motoren erforderlich, die besser und damit heißer
verbrennen. Je höher der Kolbenring steigt und an den Brennraum rückt, desto
geringer die Emissionen. Dafür brauche ich aber ein Ölprodukt, das mit extremen
thermischen Anforderungen fertig wird.“


Die neue Ölgeneration von Shell speziell für Nutzfahrzeuge, hat auch dieses Problem
gelöst. Es ist von Daimler zugelassen für Wechselintervalle bis zu 120.000 Kilometer
Fahrleistung – die derzeit längsten Intervalle überhaupt. Leonhardt: „Darin stecken
allerdings fünf Jahre Entwicklungsarbeit.“ Bei der Entwicklung von besseren Ölen
arbeitet das PAE-Labor unter dem Dach von Shell Global Solutions eng mit der Nutzfahrzeugsparte von Daimler zusammen: Der Mineralölkonzern liefert seit zehn
Jahren das Erstbefüllungsöl für die Nutzfahrzeugpalette mit dem Stern.


Weil die Anforderungen an die Motoren und damit auch an die Formulation des Öls
dramatisch gestiegen sind, schöpfen die Partner das gesamte Instrumentarium des
PAE-Labors aus und testen auf mehreren verschiedenen Ebenen. Dabei folgen im
nächsten Schritt nach den Labortests die Motorprüfstände. „Prüfstandbox darf nur bis
zu einer Drehzahl von 1000 1/min betreten werden!“ warnt ein Hinweisschild. Hier
kann es schon mal laut und ungemütlich werden. In der Gasse mit 22 Testboxen
werden komplette Motoren, Antriebsstränge und Einzelkomponenten bis zu 500
Stunden im Dauertest gestresst. So können präzise Messungen von Verschleiß und
Verbrauch durchführt werden, für die man im Feldtest deutlich länger brauchen
würde. Um wissenschaftliche Aussagekraft zu erzielen, schrauben die Entwickler von
Shell und Daimler den Motor vor und nach dem Test komplett auseinander und
vergleichen millimetergenau die getesteten Teile.


Kraftstoffersparnis durch Motorenöle spielt sich im einstelligen Prozentbereich ab.
„Man kann von Margen zwischen einem und drei Prozent ausgehen“, sagt Helmut
Leonhardt. Was nach wenig klingt, erzielt in der Praxis einen langfristigen
wirtschaftlichen Nutzen für Flottenbetreiber – und die Umwelt: Nur ein Prozent
Kraftstoffersparnis entspricht einer Reduzierung von 1,3 Tonnen CO2 pro Lkw und
Jahr. Bei 30 Millionen Lkw auf Europas Straßen lässt sich leicht ausrechnen, wie
scheinbar geringe Einsparungen beim Sprit zu einem großen Beitrag für die Umwelt
wachsen.


Die beinahe perfekte Simulation realer Fahrsituationen gelingt auf dem
Rollenprüfstand des PAE-Labors. In einer hermetisch verschließbaren Werkhalle
steht eine Actros-Zugmaschine auf Rollen: „Wir haben dieses Modell umgebaut zu
einem Dual Fuel Truck: Jede Zylinderbank des V6-Motors ist einen separaten
Kraftstoffkreislauf angeschlossen“, sagt Martin Lübbers. Der Teamleiter Engine &
Vehicle Technology überwacht in enger Zusammenarbeit mit der
Entwicklungsabteilung von Daimler die Tests auf dem Rollenprüfstand. Mit der
Versuchanordnung „Dual Fuel Truck“ sind die Forscher der Shell in der Lage zwei
verschieden Kraftstoff- oder Ölqualitäten direkt miteinander zu vergleichen.


Aktuell erforscht das Team, wie sich der Zylinder-Innendruck bei verschmutzten
Einspritzdüsen auf das Drehmoment und damit auf den Kraftstoffverbrauch auswirkt:
Die Rückstände verändern den Einspritzstrahl so, dass die optimale Verbrennung
nicht mehr stattfindet. Martin Lübbers: „Man kann in so einem Versuch nachweisen,
wie sich der Wirkungsgrad eines minderwertigen Kraftstoffs schleichend verringert
und wie das Fahrzeug, um die gleiche Leistung zu bringen, auf Dauer mehr
Kraftstoff verbrennt.“


Auf dem Rollenprüfstand wird das gesamte Spektrum an Fahrsituationen von
Bergauf-Fahrten bis zum Schiebebetrieb perfekt simuliert. Zudem kann die Testhalle
mit einer eigens installierten Klimatechnik auf bis zu –40 Grad Celsius
heruntergekühlt oder auf +50 Grad Celsius aufgeheizt werden. So lässt sich auch
Winterdiesel prüfen. Für die nächste Technologiestufe überlegen die Entwickler
sogar, die Hamburger Luft zu filtern – um festzustellen, ob die Emissionen wirklich
aus dem Motor kommen.

 

„Es muss eben vorangehen“, findet Helmut Leonhardt und eilt im zügigen Tempo
vom Labor zurück in sein Büro. Er hat es erst vor kurzen bezogen. In den Kartons
wartet noch seine Shellauto-Sammlung mit 150 Einzelstücken auf einen
angemessenen Platz. Vor dem Fenster schlagen die Wildkaninchen Haken. „Bevor
die anfangen, die Deiche rund um die Tanks umzugraben, muss das Problem gelöst
werden - möglichst mitarbeiterinnengerecht“, sagt der Forscher mit einem
Schmunzeln. Dass das schwer werden könnte, schwant ihm allerdings auch schon:
„Mein Chef ist passionierter Jäger.“


© Christoph Schomberg